Mit seiner freundlichen Genehmigung veröffentlichen wir einen offenen Brief von Gari Pavkovic, dem Integrationsbeauftragten der Stadt Stuttgart, zur Integrationsdebatte nach Sarrazin.
Das Staatsversagen: Warum Deutschland an der Integration scheiterte / Bündnis der Weggucker
Man kann die pauschale Behauptung aufstellen, dass Integration von Einwanderern in Deutschland gescheitert sei und diese These mit selektiven Aussagen und Statistiken "belegen".
Man kann auch Sarrazins Meinung teilen, dass Türken/Muslime aufgrund ihrer Kultur oder Erbanlagen dümmer seien als Deutsche oder als andere "Völker" und dass sich daran trotz guter Bildungsangebote auch in 100 Jahren wenig ändern wird. In den USA, wo Muslime überwiegend Akademiker sind, haben einige Forscher behauptet, dass Schwarze genetisch dümmer seien als Weiße, weil diese insgesamt niedrigere Schulabschlüsse aufweisen. Jedes Land hat seine "Türken".
Genauso könnte jemand die pauschale Behauptung aufstellen, dass die Deutschen immer noch verkappte Anhänger einer völkischen Rassenideologie seien und seine These durch ausgewählte Praxisbeispiele von Neonazis beispielsweise aus neuen Bundesländern und durch einzelne als rassistisch auslegbare Aussagen eines Thilo Sarrazin und seiner vielen Fürsprecher "beweisen".
All diese Aussagen sind in ihrer Verallgemeinerung falsch. Sie werden auch nicht richtiger, wenn viele Menschen sie teilen.
In der Zwischenzeit lässt sich in einigen gesellschaftlichen Bereichen messen, inwieweit die Integration von Zugewanderten gelingt. Wenn aber einzelne Statistiken nur selektiv herangezogen werden, um vorgefasste Meinungen (Vorurteile) zu bestätigen, geht es nicht um eine objektive Bestandsaufnahme der Integration in unserem Land sondern um Stimmungsmache – in diesem Fall gezielt gegen einen Teil unserer Bevölkerung.
Man benötigt scheinbar ein konkretes Objekt für die Projektion der eigenen Ängste und somit gegen die Abwehr dieser Ängste vor Verlust und Abstieg in einer sich schnell verändernden Welt mit ihren Krisen. Diese Sündenbock-Rolle bekamen früher die Juden im Dritten Reich (und heute in vielen islamischen Ländern, aber auch in Osteuropa) oder die Farbigen in den USA. Das Prinzip ist immer das gleiche: uns geht es schlecht, und die Verantwortung dafür tragen andere (Juden als Ausbeuter und Weltverschwörer, "Neger" oder Roma als Kriminelle, türkische/muslimische Einwanderer als kulturfremde Sozialschmarotzer).
Lösungen für derart konstruierte Probleme erwartet man, indem man "den Bock zum Gärtner" macht – d.h. sich den Brandstifter als den vermeintlichen Retter des brennenden Hauses herbeisehnt.
Unsere zunehmend komplexe, postnationale und individualisierte Leistungsgesellschaft, in der man den erreichten Erfolg und Misserfolg seit Jahren hauptsächlich der Eigenverantwortung des Einzelnen zuschreibt, braucht wohl wieder mehr dramatische Inszenierungen mit personalisierten Tätern, Opfern und Rettern. "Wir sind Papst" und Mesut Özil ist unser Kicker – das war gestern.
Die breite mediale Promotion von Sarrazins Buch und von seinen prominenten islamophoben Sekundanten als Kommentatoren zur Lage der Nation könnte den Eindruck erwecken, dass in Deutschland künftig die Türken/Muslime für das "Staatsversagen" herhalten sollen. Gemeint sind türkeistämmige Einwanderer ebenso wie die Türken in der Türkei (die in unsere christlich-abendländische EU drängen) oder politische Islamisten weltweit. Zwischen den Muslimen hierzulande und in anderen Ländern wird dabei kaum unterschieden. Den Gegenpart zu diesen "Tätern" und uns allen als schweigenden Opfern bilden neue Helden wie Sarrazin, die zumindest laut sagen, was Sache ist.
Nun legt DER SPIEGEL nach. Nicht nur der Türke an sich ist das Problem, sondern diesmal auch der Staat bzw. seine Politiker - neben den linken politisch korrekten Gutmenschen und Multi-Kulti-Träumern zählen dazu neuerdings auch die konservativen Realitätsverweigerer der CDU. Sie alle werden von mutigen Patrioten wie Sarrazin & Co. (sprich: von BILD bis FOCUS und SPIEGEL) endlich gezwungen, die Missstände klar zu sehen und offen zu benennen. Nebenbei wird von den Medien beharrlich eine neue Partei rechts der CDU herbeigeredet/herbeigesehnt, die uns endlich Lösungen (Erlösung bzw. Rettung) bringen soll.
Ein Blick in viele Kommunen würde zeigen, dass es schon seit Jahrzehnten eine differenzierte Integrationspolitik mit vielen positiven Lösungsansätzen gibt. Und daneben gibt es nach wie vor große Probleme wie im Bereich der schulischen und beruflichen Ausbildung von jungen Menschen ausländischer Herkunft (und aus deutschen Arbeiterfamilien).
Obwohl Integration immer vor Ort beginnt und deren Erfolge und Misserfolge da auch am besten untersucht werden können, sind Kommunalpolitiker und –praktiker als Interviewpartner der Medien nicht gefragt - mit Ausnahme Heinz Buschkowskys, dessen Berliner Bezirk Neukölln als Negativbeispiel für ganz Deutschland herhalten muss. Im Übrigen ist auch die Situation in Neukölln trotz der dort vorhandenen Probleme, die Herr Buschkowsky seit Jahren im Klartext anspricht, besser als ihr Ruf. Aber darum geht es nicht. Hier soll eine Meinung mit renommierten "Kronzeugen der Anklage" aus dem bundespolitischen Medienzirkus als eine bisher unausgesprochene Wahrheit verkauft werden. Genauer gesagt geht es um zwei Meinungen: der Islam ist das Problem, und die politische Kaste ist unfähig dieses Problem zu lösen ("Staatsversagen"). Beide Behauptungen lassen sich ausgesprochen gut verkaufen: der Islam als der neue Blitzableiter für die sozialen Abstiegsängste der bürgerlichen Mittelschicht und das altbewährte Draufhauen auf die politisch Verantwortlichen, die wieder einmal ein wichtiges Thema ängstlich verwalten anstatt mutig und hart anzupacken und schnell zu lösen.
Viele europäische Länder wären froh, unsere Zustände in Sachen Integration zu haben, aber das ist eine andere Geschichte, die sich nicht gut verkaufen würde. Um bei den realen Integrationsproblemen hierzulande zu bleiben: in Sachen bessere Bildung von Migranten könnte Deutschland viel von skandinavischen Ländern oder von Kanada übernehmen, wenn sich die Einsicht durchsetzen würde, dass Selektion und Sanktion der sozial Schwächeren keine Erfolgsrezepte sind, wenn wir gute Bildungschancen für alle ermöglichen wollen.
Sarrazin bzw. seine Medienorgane sind in Sachen Demografie, Migration und Bildung keine Tabubrecher. Sie greifen die Megathemen der letzten zehn Jahre auf und verkürzen diese auf die Formel: Uns würde es besser gehen, wenn der Bevölkerungsanteil der Türken reduziert werden könnte oder wenn sich diese Morgenländer endlich anpassen würden.
Unbequeme Wahrheiten haben andere gesagt – die OECD beginnend mit der ersten PISA-Studie 2000, Migrations- und Bildungsforscher hierzulande wie Klaus Bade (jahrelang ignoriert), der frühere Innenminister Schäuble ("Islam ist ein Teil unseres Landes") sowie kommunale Spitzenpolitiker wie schon vor über 30 Jahren der Stuttgarter Alt-OB Manfred Rommel: "De facto ist die Bundesrepublik Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden." (Zitat aus dem Jahre 1976!).
Städte und Gemeinden warten übrigens nicht, bis Bund und Länder Integrationspläne vorlegen und ein Thilo Sarrazin sie via BILD oder SPIEGEL belehrt, sondern entwickeln seit langem in vielen kleinen Schritten konkrete Integrationsmaßnahmen, ohne dabei die Probleme klein zu reden oder zu dramatisieren.
In den 50 Jahren seit der ersten Gastarbeiteranwerbung können wir auf eine insgesamt sehr positive wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zurückblicken, wenn wir auf das heutige Einwanderungsland Deutschland differenziert im Alltag vor Ort blicken – und nicht wie derzeit nur von oben wie aus einem Weltraumsatelliten (mit punktuellem Heranzoomen von Sarrazins "Abschaffer-Deutschland" in Neukölln). Manches hätte man sicherlich schneller anders oder besser machen sollen. Nicht nur in Sachen Integration sondern auch in Bezug auf mehr Kinderfreundlichkeit und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kinder gelten als ein Kostenfaktor, kinderreiche Familien und Alleinerziehende haben trotz Transferleistungen ein erhöhtes Risiko zu verarmen. Und die unterdurchschnittliche Repräsentanz von Frauen in deutschen Vorstandsetagen hat nichts mit Genen der deutschen Frauen zu tun. Aber um bei den Migranten zu bleiben: die jahrzehntelange vorherrschende Einstellung der Politik und der Migranten selbst, Einwanderung als eine rein wirtschaftliche und nur vorübergehende win-win-Situation beider Seiten zu betrachten, war keine Grundlage für eine gute Integration. Beide Seiten haben sich von dieser Täuschung befreit, ohne in Enttäuschung und im Lamentieren über die Versäumnisse der Vergangenheit zu verharren. Integration hat trotz lange fehlender Integrationspolitik der Regierenden stattgefunden. Und einige Probleme sind geblieben, die es jetzt zu lösen gilt.
All die ungelösten Integrationsprobleme sind inzwischen längst bekannt und benannt, ausführlich im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung von 2006.
Der Nationale Integrationsplan der Kanzlerin und ihrer Integrationsbeauftragten gilt mit seinem Ansatz der Integration als gemeinsame Aufgabe aller gesellschaftlichen Akteure einschließlich der Migranten selbst und der Medien als ein Meilenstein und europaweit als vorbildlich. Seine Umsetzung kann trotzdem nicht über Nacht erfolgen. Gesagt ist nicht getan.
Gelungene Integrationsarbeit ist etwas für Wege- und Brückenbauer mit Ausdauer. Der aktuell neu aufgelegte Chorgesang der "Sarraziner" über die gescheiterte Integration ignoriert die Bemühungen von Tausenden haupt- und ehrenamtlich engagierten Menschen mit und ohne deutschen Pass. Schlimmer noch: dieses hysterische Herbeireden des Misserfolgs legt all den Menschen und Einrichtungen, die den Weg in eine bessere Zukunft Deutschlands als funktionierende Gesellschaft bauen, Steine vor die Füße.
Wir, die Integration tagtäglich vor Ort gestalten, brauchen keine dramatischen Klagelieder der neuen "Hingucker" sondern verantwortungsbewusste Bündnispartner für unsere Integrationsarbeit, die sich konkret für ein besseres Miteinander einsetzen. Auch in Sachen Integration und Bildung gilt das alte, oft bemühte Motto: es gibt nichts Gutes außer man tut es. Oder frei schwäbisch abgewandelt: Schwätzen über Integration kostet nichts, aber nur richtiges Schaffen dafür bringt uns allen Gewinn, und darauf kommt es an.
Gari Pavkovic
Stuttgart, 13.09.2010
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Irgendwie lässt mich das Thema Sarrazin einfach nicht los. Der SPD-Vorstand hat das Parteiordnungsverfahren gegen Thilo Sarrazin ohne Gegenstimmen beschlossen. So wie ich in der Presse lesen kann, hat der Fall Sarrazin ein grosses Echo innerhalb der SPD hervorgerufen. Warum so frage ich mich, macht diese Partei nicht eine Mitgliederbefragung. Siche aus dem gleichen Grund warum die Merkel nicht die Bürger über die Verlängerung der AKWs befragt hat. Etwas mehr direkte Demokratie ist schon wünschenswert, in den Parteien, wie in der Regierung. Der Bürger kommt sich langsam wie Stimmvieh vor, dass alle 4 Jahre an die Urne gerufen wird. Kein Wunder, dass die Anzahl der Nichtwähler immer mehr ansteigt.
AntwortenLöschenEs ist GUT jetzt!!
AntwortenLöschenDas Wort Integration gehört nicht mehr in mein Vokabular!
Jeder spricht von einer Rauchwolke, wobei das Feuer schon lange erloschen ist.
In der Asche wächst nun ein Baum, "Deutsch-Türke".
Man lege das Wort 4 Jahre brach damit gesundes gedeihen kann!!!